Plenarrede vom 17.09.2020: Berlins Kultur sicher durch die Krise bringen

Herr Präsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist zweifelsohne eine äußerst unglückliche Fügung, dass sowohl das Coronavirus als auch die Kulturlandschaft auf Veranstaltungen mit Menschenansammlungen angewiesen sind. Nur dort, wo viele Menschen zusammenkommen, findet die massenhafte Verbreitung des Virus statt. Viele Menschen möchte aber auch die Kultur erreichen – sei es in Opern, Theatern, Konzerten, Museen in Kinos oder Clubs. Und daher ist ausgerechnet die Kulturbranche, welche die DNA dieser bunten, lebendigen und vielfältigen Stadt so wesentlich prägt wie kaum eine zweite, durch diese Corona-Krise betroffen.

Öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind durch Einnahmeausfälle aufgrund ausgefallener Veranstaltungen betroffen – ihre Spielzeit 2019/20 endete ja Anfang März. Die Folgen für ihre Wirtschaftspläne und für den Landeshaushalt werden erst gegen Ende des Jahres genau zu beziffern sein. Wobei natürlich auch der nun vorsichtig wieder angelaufene Spielbetrieb unter Corona-Bedingungen längst nicht die für die zweite Jahreshälfte veranschlagten Zahlen erreichen wird.

Private Kulturinstitutionen und selbstständige Kunstschaffende leiden aber besonders unter dem Wegbrechen ihrer Arbeitsmöglichkeiten und sind im letzten halben Jahr unverschuldet in existenzbedrohliche Situationen geraten.

Hier konnte die Berliner Politik nicht tatenlos zusehen, hat auch nicht tatenlos zugesehen, sondern schneller als jedes andere Bundesland bereits im März mit den Soforthilfeprogrammen I und II unbürokratisch Unterstützung für Soloselbständige und Kleinstunternehmen bis zu zehn Beschäftigten geleistet. Mit der Soforthilfe IV folgten dann im Mai private Institutionen und Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten, sofern sie sich in Liquiditätsschwierigkeiten befanden. Hier profitierten Kabaretts ebenso wie Kinos, Veranstaltungsorte der freien Szene oder die Urania Berlin. Die Fortsetzung 2.0 der Soforthilfe IV ist gerade in der Bewilligung, und weitere Schritte werden folgen.

Auch auf Bundesebene lässt die Politik die Kultur nicht im Stich. Unter dem Titel „Neustart Kultur“ wurde ein Rettungspaket in Höhe von 1 Milliarde Euro für den Bereich Kultur und Medien beschlossen, aus dem pandemiebedingte Investitionen und die Stärkung der Kulturinfrastruktur sowie digitale Angebote finanziert werden können. Dies gilt für Museen ebenso wie für Bibliotheken, für Theater wie auch für Musik und Tanz, und sogar Musikclubs werden explizit genannt.  In das Europäische Parlament wurde von der sozialdemokratischen Fraktion gerade ein Antrag eingebracht, dass mindestens 2 % des European Recovery Fund in die Kultur fließen sollen, was nicht viel klingt, aber bei 750 Milliarden Fondsvolumen schon eine beachtliche Summe darstellt.

Natürlich ist allen Beteiligten klar, dass allein finanzielle Hilfen nicht reichen, um Berlins Kultur sicher durch die Krise zu bringen. Weder kann der Staat – sei es nun das Land Berlin, der Bund oder die EU – dauerhaft alle Einnahmeausfälle kompensieren, noch kann die Kultur längere Zeit ohne ihr Publikum leben. Veranstaltungen können nicht auf Dauer durch Streaming und andere digitale Angebote ersetzt werden, auch wenn die vergangenen Monate hier einiges an Möglichkeiten offenbart haben.

Jedoch ist leider auch klar: In diesen Zeiten macht man es sich zu leicht, wenn man fordert, die Schutz- und Hygienevorschriften schnellstmöglich wieder zu lockern und auf ein Minimum zu reduzieren.

Manche mögen den Politikstil eines Boris Johnson oder Donald Trump mutig nennen – ich nenne ihn naiv und verheerend, was die Infizierten und Todeszahlen in den betreffenden Ländern ja auch auf traurige Weise zeigen. Der Verlauf dieser Krise hat uns gelehrt, dass wir den rationalen, vorsichtigen und wissenschaftlich-fundierten Kurs beibehalten müssen. Mut und Wagnisse in einer Pandemie sind die fahrlässige Inkaufnahme unkalkulierbarer Risiken. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Fehler nicht nur Menschenleben gefährdet, sondern uns auch um Monate zurückwerfen und in den nächsten Lockdown zwingen kann, den niemand will. Hierfür gibt es international inzwischen hinlänglich bekannte Beispiele. Deshalb müssen wir – so schmerzlich es manchmal sein mag – weiterhin den Weg der Rationalität und der Vorsicht beibehalten.

Auf diesem Weg ist es selbstverständlich auch die Aufgabe des Senats, die Notwendigkeit einzelner Vorschriften und Maßnahmen stetig zu hinterfragen und – soweit möglich – Vorgaben zu lockern. Die Grundlage dieser Lockerungen darf aber niemals ein naives Vorpreschen in Armin Laschet-Manier sein. Vielmehr müssen wir mit Augenmaß vorgehen. Der Kultursenator hat am letzten Montag im Kulturausschuss die zeitnahe Reduzierung des Mindestabstands in Theatern, Opern und Konzerthäusern auf einen Meter angekündigt, um das Schachbrettprinzip bei der Belegung von Sitzplätzen zu ermöglichen und somit eine deutlich höhere Auslastung zu gewährleisten. Ich begrüße diese Entscheidung ausdrücklich.

Gleichzeitig müssen und werden wir finanziell weiterhin ans Limit gehen, um das Überleben der Berliner Kulturlandschaft in Gänze zu sichern. Während einige Parteien ausschließlich Institutionen der sog. Hochkultur im Blick haben und andere vornehmlich elitäre Liebhaberprojekte pflegen, kommt es aus sozialdemokratischer Sicht darauf an, das kulturelle Angebot in der ganzen Breite und Tiefe für die Berlinerinnen und Berliner zugänglich zu erhalten.

Nun möchte ich noch einige Sätze zum Antrag der Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion verlieren.

Es war einst Willy Brandt, der vor gut 50 Jahren in seiner ersten Regierungserklärung den Satz prägte, mehr Demokratie zu wagen und damit einen neuen, mutigen Politikstil einläutete. Natürlich freuen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns immer, wenn Willy Brandt zitiert wird. Nun möchte also die FDP – so zumindest der Titel ihres Antrags „Endlich wieder mehr Kultur wagen“. Das Ziel ist zunächst einmal aller Ehren wert und ich denke uns alle verbindet der Wunsch, möglichst bald wieder in gut gefüllten Theater- und Konzertsälen zu sitzen. Nur ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um Wagnisse einzugehen und damit Menschenleben zu gefährden.

Die Begründung Ihres Antrags beenden Sie im Übrigen mit dem folgenden bemerkenswerten Schlusssatz. Ich zitiere: „Kein Kultursenator kann den Menschen in Berlin die Einschätzung ihres individuellen Lebensrisikos abnehmen.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Satz verkennen Sie in fataler Weise die Grundproblematik dieser Pandemie. Nur weil eine Person gesund ist und das Risiko hinnehmen mag, sich mit dem Virus anzustecken, heißt das noch lange nicht, dass diese Person sämtliche Schutzvorkehrungen außer Acht lassen und ein beliebig hohes Infektionsrisiko eingehen darf. Denn jede infizierte Person kann wiederum zur Gefahr für das Leben anderer Menschen werden, die beispielsweise unter Vorerkrankungen leiden und ein schwaches Immunsystem haben. Es ist unsere Aufgabe, auch diese Menschen in der Gesellschaft zu schützen. Insofern möchte ich Ihnen entgegnen: Der Schutzauftrag der Verfassung gebietet es auch dem Kultursenator, das individuelle Infektionsrisiko zu reduzieren.

Wenn Ihr Kollege, Ihre Kollegin, ihr Vater, ihre Mutter sich gegen einen Opernbesuch entschieden haben, weil einem von ihnen auch nur das halbbesetzte Opernhaus zu voll erscheint, dann ist Ihre scheinbar individuelle Entscheidung, es doch zu riskieren, eben nicht allein Ihr individuelles Lebensrisiko. Mit anderen Worten: Sie können gar nicht allein für sich allein das Risiko kalkulieren, jede scheinbar individuelle Einschätzung reicht über den Einzelnen hinaus. Das ist die Krux an einer Pandemie.

Sie argumentieren nun, dass der Senat den Einzelnen allein dadurch aus der Verantwortung sich und anderen gegenüber nachgerade entlasse, indem er seine politische Fürsorgepflicht der Bevölkerung gegenüber wahrnehme. Und Sie fordern, dass er sich zurückziehe, damit seine Schäfchen in Kulturveranstaltungen wieder Verantwortung lernen. Das muss man als FDP wohl so formulieren.

Ohne jetzt in eine staatstheoretische Debatte abgleiten zu wollen, muss ich sagen, dass ich mich der Argumentation – aus den genannten Gründen – nicht anschließen kann. Fraglos halte auch ich den Wert der Kultur sehr hoch und bin für eine möglichst zeitnahe Lösung des Dilemmas.

Dass wir aber jetzt schon so weit wären, dass es – wie Sie in Ihrem Antrag schreiben – „gesicherte Standards“ gäbe, die nur irgendwie zu implementieren seien und dann läuft es schon, halte ich für ein Gerücht. Hier gibt es noch einiges zu verstehen und entsprechend auszuarbeiten, wie der Besuch einer Kulturveranstaltung, gerade im jetzt beginnenden Winterhalbjahr, in geschlossenen Räumen tatsächlich zu einem kalkulierbaren Risiko werden kann.

Dies allein den Veranstaltern zu überlassen, wäre ziemlich unfair ihnen gegenüber. Hier muss es darauf ankommen, sie zu entlasten, indem eben Standards geschaffen werden. Wenn jeder individuell seine „Standards“ ausbildet, dann sind das allerdings keine und wenn sie noch so ausgeklügelt sind.

Wie sehr die Verantwortlichen in den Kulturinstitutionen die Herausforderung annehmen und das verantwortbar Mögliche auch wagen wollen, zeigte sehr schön die gestrige Anhörung im Ausschuss „Euro, Bund, Medien“. Dort kündigte das Leitungsduo der Berlinale an, das Filmfestival im kommenden Jahr pünktlich stattfinden zu lassen, unter den Bedingungen einer – so wörtlich – neuen Normalität!

In eine ähnliche Richtung geht auch das hoffnungsmachende Zitat, mit dem ich enden will.  Es war die New York Times, die kürzlich schrieb, dass die BerlinArtWeek zur ersten bedeutsamen internationalen Veranstaltung der Kunstwelt seit März wurde. Ich denke, darauf können wir Berlinerinnen und Berliner durchaus stolz sein.

Wir werden weiterhin alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um aus der aktuellen Situation das Beste zu machen. Und wir werden mit den Berliner Kulturschaffenden im ständigen Austausch bleiben und sie weiterhin mit allen Kräften unterstützen, auch wenn wir dafür finanziell ans Limit oder sogar darüber hinaus gehen müssen. Wir werden Berlins Kultur sicher durch die Krise bringen!

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!