Linke Leitkultur? – Charlottenburger Gespräch mit Raed Saleh und Klaus Wowereit
Eine spannende Debatte zur Bedeutung gemeinsamer Werte in der Goethe15
Zu einem weiteren Charlottenburger Gespräch war der Autor des nicht nur innerhalb der SPD vieldiskutierten Buches »Ich deutsch: Die neue Leitkultur«, Raed Saleh, zu Gast. Ebenfalls mit dabei war Klaus Wowereit, dem die Rolle zufiel, die Thesen kritisch zu betrachten und eine zweite Perspektive zu bieten.
Auch diese Veranstaltung erfreute sich eines sehr starken Andrangs – das Interesse an der Thematik ist offenbar erheblich. In Zeiten globaler wirtschaftlicher Konkurrenz und Vernetzung, rasanten technologischen Wandels insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz und der digitalen Technologien, des neoliberalen Umbaus des Sozialstaats sowie starker weltweiter Migrationsbewegungen stellt sich die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhangs neu. Wenn ein bekannter Berliner Politiker wie Raed Saleh, der in Palästina geboren wurde, ein Buch mit dem Titel »Ich deutsch« veröffentlicht und die Frage einer »Leitkultur« zu diskutieren verspricht, weckt das natürlich Interesse.
Der Abend begann mit einer Lesung, um auch die Zuhörerinnen und Zuhörer, die das Buch noch nicht gelesen hatten, mit den wesentlichen Thesen vertraut zu machen. Anschließend diskutierte Saleh mit Klaus Wowereit und mir eine Reihe kritischer Einwände, um schließlich auch auf Fragen und Kritikpunkte aus dem Publikum einzugehen. Die angenehme und konzentrierte Diskussionsatmosphäre, die von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war, zeigte deutlich, dass es mit der Kultur in Deutschland nicht nur zum Schlechten bestellt ist.
Die Frage, die Saleh aufnimmt, ist die nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Frage wird bevorzugt aus der konservativen Ecke gestellt und ist mehr eine Beschwörung, denn eine ernsthafte Problemstellung. Gesellschaftlicher Zusammenhalt beruht vor allem auf der Teilhabe der Einzelnen Gemeinsame Werte dagegen stellen sich im Falle zunehmender Ungleichheit, ungerechter Chancenverteilung und mangelnder ökonomischer Teilhabe dagegen schnell als zweifelhaft heraus. Wenn gemeinsame Werte keine Basis haben, die allen Gesellschaftsmitgliedern eine selbstbestimmte Lebensgestaltung erlaubt, dann werden sie zur Monstranz, die man zwar vor sich hertragen kann, die aber zunehmend sinnentleert erscheint.
Das heißt aber nicht, dass Fragen nach Gemeinsamkeiten, Werten, Kultur einfach ignoriert werden könnten. Soziale Integration hat eine normative Seite, sie basiert darauf, dass gewisse Dinge vorausgesetzt werden können, dass Regeln gelten und nicht nur geduldiges Papier sind. Saleh weist immer wieder darauf hin, wie wichtig es sei, Regeln und Grenzen klar zu kommunizieren, Gesetzesverstöße schnell zu ahnden (Neuköllner Modell) und klare Kante zu zeigen. Der »starke Staat« ist seiner Meinung nach gefordert – gerade auch, um Sicherheit für alle zu gewährleisten und nicht nur für die, die sich einen privaten Sicherheitsdienst mieten können. In dem Begriff der »Leitkultur« sieht Saleh einen Oberbegriff, in dessen Rahmen sich solche Fragen diskutieren lassen. Er versteht darunter eine Art »Hausordnung für unser Land«.
Das gilt auch gerade im Kontext der Integration von Flüchtlingen und Einwanderern. Unsicherheiten – es genügt der Stress, den z.B. dauerhaft überfüllte Busse erzeugen – können zu Neiddebatten mit rassistischen Einfärbungen führen, wie Saleh konstatierte. Er fordert, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, warum die Flüchtlinge hier sind: »Auf ihr Haus in Aleppo werden Bomben abgeworfen. Es ist nur vernünftig, von dort zu verschwinden. Jeder würde das tun. Aber man muss eben auch die Taktzahl der Busse erhöhen und damit den sozialen Stress abbauen, den Zuwanderung vor Ort für die Einheimischen bedeuten kann!«, skizzierte er die Argumentation.
Aus dieser vielseitigen Themenstellung entwickelte sich eine ausführliche und konzentriert geführte Debatte über gemeinsame Werte und über die Frage, was es heißt »deutsch zu sein«. Worauf Raed Saleh hinaus möchte, ist eine inklusive Leitkultur. Aus der rechten Ecke wird der Begriff ja eher als Signal für Ausgrenzung eingesetzt. Gerade deshalb wurde in der Diskussion auch stark bezweifelt, ob der Begriff »Leitkultur« wirklich der richtige ist. Birgt nicht schon die Rede von einem kollektiven »Wir« die Unterscheidung zu einem »Ihr« in sich? Muss eine Leitkultur nicht notwendig ausgrenzen? Ob nun »linke Leitkultur« (Saleh) oder rechte Leitkultur – wer kann sich anmaßen, anderen vorzuschreiben, wer sie zu sein haben und wie sie zu leben haben? Geht es nicht eher darum, worauf Klaus Wowereit hinwies, allgemeine humanistische Orientierungen und eine generelle Weltoffenheit zu verteidigen? Erschöpft sich die Sicherheitsproblematik, die innerhalb der SPD ja lange Zeit fast völlig ignoriert wurde, in eine »starken Staat« oder muss es nicht darum gehen, Kompetenzen zu fördern, die die Achtung des Anderen einschließen? Und sind nicht ökonomische Teilhabe und ein echter Sozialstaat grundlegende Voraussetzungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Saleh jedenfalls distanzierte sich vorsichtig von dem Begriff der »Leitkultur«: »Mit Begrifflichkeiten halte ich mich am Ende nicht auf«. Das war natürlich der Punkt, an dem man gut noch zwei Stunden hätte weiter diskutieren können. Denn es ist ja nicht so, dass Begrifflichkeiten unwichtig wären – gerade dann nicht, wenn man über Wertorientierungen spricht. Doch nach über zwei Stunden intensiver Diskussion war es Zeit, die Goethe15-Tassen zu überreichen, von denen sowohl Raed Saleh als auch Klaus Wowereit nun bereits zwei haben (Wowereit: »Da habe ich nun ein Service.«), und zum gemütlichen Teil des Abend überzugehen, bei dem aber auch noch lange ernsthaft und kritisch bilateral diskutiert wurde. Raed Saleh hat mit seinem Buch zweifellos etwas erreicht.